Letztes Wochenende ist eine meiner besten Freundinnen mit ihrem Freund zusammen gezogen. Eine andere redet nur noch vom schwanger werden und eine dritte hat im August geheiratet. Alle sind in meinem Alter, plus/ minus ein Jahr. Und ich sitze auf der Einweihungsparty, beim Frühstück oder im Standesamt, schaue in das Gesicht einer mir so vertrauten Person und frage mich: sind wir eigentlich noch die Seelenverwandten von damals?
Früher war das alles ziemlich einfach mit der Freundschaft. Die Schule hat den Tag strukturiert und organisiert, man hatte ungefähr gleich viel Geld und Zeit, hatte ähnliche Sorgen und Freuden und auch sonst viele Dinge, über die man sich unterhalten oder gemeinsam aufregen konnte. Heute sind die Lebenswelten so verschieden geworden, da gibt es mit „den alten Leuten“ kaum noch Schnittmengen. Es sei denn, man erzählt sich die alten Geschichten. Aber ist das dann noch eine Freundschaft?
Es ist ja nicht so, dass sich alles nur verändert, wir wollen ja auch anders als die anderen sein. Individuell. Ich will frei sein, ich will selbst bestimmen, ich will mich abgrenzen von anderen und „ich“ sein. Aber kann es sein, dass ich somit auch für die Freundschaft zu frei, zu egozentriert geworden bin? Kann ich mich überhaupt noch so weit auf jemanden einlassen, dass es als echte Freundschaft bezeichnet werden kann?
Leben bedeutet heute nicht mehr nur Überleben. Die Fragen, die ich mir stelle, sind nicht in erster Linie, wie kann ich morgen satt werden oder was kann ich tun, um nicht zu erfrieren? Die Frage ist vielmehr: wie will ich mein Leben gestalten, was soll es ausmachen?
Das wichtigste im Leben, darüber sind sich die meisten einig, sind Familie, die Liebe und Freundschaften. Beziehungen also. Meine Lieblingsdefinition vom Leben lautet: Leben ist die Summe aller Beziehungen. Wenn man in Beziehung zu anderen tritt, merkt man, dass man tatsächlich da ist, dass man tatsächlich existiert. Durch andere Menschen und deren Gedanken und Überzeugungen kann man entscheiden, was einem wichtig ist, wo ich mich anschließen und wo ich mich doch lieber abgrenzen will.
Nun gibt es zwei mir bekannte Modelle von Freundschaft.
Das eine bezeichnet Soziologin Ursula Nötzoldt als das „System differenzierter Freundschaften“. Mit dem einen geht man abends ein Bier trinken, mit dem nächsten geht man feiern und den anderen sieht man nur zweimal im Jahr, weil er 800 km entfernt wohnt, aber dafür redet man dann über Dinge, die man niemandem erzählen würde, den man jeden Tag sieht. Diese Menschen sind ebenso wie man selbst individuell und man trifft sich auf dem gemeinsamen Nenner und geht meist auch nicht darüber hinaus. Das ist überaus bequem, denn wenn man sich mit einem Menschen nur in einem Gebiet auseinander setzt, von dem man weiß, dass beide ähnlich dazu stehen, gibt es kaum Reibungspunkte und der eigenen Individualität steht nichts im Wege. Man nimmt die Unterschiede vielleicht wahr und weiß darum, stört sich aber nicht weiter daran, weil man selbst ja nichts damit zu tun hat.
Das andere Modell ist das der besten Freundin/ des besten Freundes. Der oder dem man alles erzählt, mit dem man alle Gedanken und Gefühle teilt, für die oder den man egal zu welcher Uhrzeit da ist. Der perfekte Freund wird uns in Serien wie „Scrubs“ oder „Sex and the City“ als einzigen Menschen im Leben propagiert, auf den wir uns immer verlassen können. Serienfiguren bauen auch mal Mist oder kommen in schlimme Situationen, sie werden verlassen, haben Unfälle, sind von der Familie verhasst oder verlieren ihren Job. Aber direkt daneben steht er, der beste Freund, der einen immer versteht, den passenden Spruch und ein bisschen Kleingeld parat hat. Die große Liebe hat ausgedient, an die glaubt heute niemand mehr – zumindest nicht fürs Leben und nicht in Hollywood. Aber die Freunde und der beste Freund ist von der ersten bis zur letzten Folge der selbe.
Dieses mediale Idealbild vergrößert meine Ansprüche an den besten Freund ungemein. Wie schön wäre es doch, jemanden zu haben, der alles, was mich bewegt, nachvollziehen und verstehen kann, dem ich in jedem Bereich meines Lebens vertrauen kann und der immer für mich da ist. Bloß anders als die Serienstars bin ich nicht über Jahre hinweg im gleichen Ort, im gleichen Job, in den gleichen Lebensumständen geblieben. Und meine Freunde eben auch nicht. Wie gesagt, einige haben geheiratet oder bekommen Kinder, wohnen seit ihrer Geburt im gleichen Ort oder sind in eine Stadt gezogen, in der ich noch nie war. Genauso, wie ich in eine Stadt gezogen bin, die kaum jemand kennt und die fast immer die gleiche Reaktion hervorruft: eine hochgezogene Augenbraue und die Frage „Halle? Das ist doch keine schöne Stadt, oder?“. Nein, schön ist es nicht. Aber es ist jetzt mein zu Hause und ich liebe es. Und das nicht wegen ihrer bezaubernden Bauten und umwerfenden Parks, sondern wegen den Erlebnissen, die ich hier gemacht habe. Wegen den Emotionen, die in mir hochkommen, wenn ich an dem Club vorbeilaufe, in dem ich hier das erste Mal geknutscht habe oder an dem Haus, wo die beste WG-Party meines Lebens stattfand oder in dem Park, in dem ich letztens mit Kommilitonen gegrillt habe. Aber wie soll ich das jemandem, der nie hier war, die Menschen, die mir neu wichtig geworden sind, nicht kennt und all das nicht miterlebt hat, erklären?
Je individueller wir werden, je mehr wir erlebt haben und je genauer wir wissen, was wir wollen und was nicht, desto schwieriger ist es, einen seelenverwandten Freund zu finden. Einen, der uns in jeder Situation und Gefühlslage verstehen kann und der immer zu uns hält. Denn nicht nur ich selbst, auch der andere wird immer individueller und dazu gehört, dass er eben andere Erfahrungen macht als ich, Dinge anders sieht und fühlt und mich somit nicht in jeder erdenklichen Situation verstehen kann.
Wie geht man es nun also an mit der Freundschaft?
Laut Aristoteles ist Freundschaft die Quelle der Freiheit und Selbstbestimmung.
Freunde sind die Menschen, die uns nahe sind, weil wir es ihnen erlauben, sind die Menschen, die es wert sind, uns etwas wert zu sein. Und das, weil wir einander ausgesucht haben. Aus freien Stücken und ganz bestimmt. Ob das nun für das ganze Leben oder nur für einen gewissen Teil oder eine gewisse Zeit davon gilt.
Vielleicht sind Freundschaft und Liebe sogar sehr ähnlich. Und vielleicht sollten wir uns von der Liebe ein bisschen was für die Freundschaft abgucken. Dass sie Energie erfordert zum Beispiel. Dass es nicht ein vom Himmel herabgefallenes Geschenk ist, sondern auch Arbeit bedeuten kann. Etwas, wofür man manchmal kämpfen muss. Und wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Freundschaft ist neben Familie und Liebe die intensivste Beziehung, in der Menschen zueinander stehen können. Und Beziehungen machen das Leben aus. Durch sie leben wir.
...wirklich sehr gut geschrieben. Gerade aber auch die Individualität eines Menschen und die Fähigkeit diese zu akzeptieren und den Mut sie in jeder Situation zu äußern, egal wie stark der Gegenwind ist, ist wahre Freundschaft.
AntwortenLöschenGruß Tobi