Couchsurfing ist keine neue Sportart, es ist viel mehr eine neue Art des Reisens. Kostenlos und mit einer großen Portion Abenteuer. Denn auf wessen Couch man wirklich schläft, erfährt man erst, wenn man an der Haustür klopft.
Dort fahren wir also. Auf dem Schoß den Wanderrucksack fest umklammert, in der Hand den letzten Keks der Packung. Im Bus ist es still. Draußen ist es bereits dunkel. In großen Romanen nennt man dies die Ruhe vor dem Sturm. Auch wir haben in diesem Moment nicht für möglich gehalten, dass unser Städtetrip zu einem kleinen Abenteuer werden würde.
Und plötzlich sitzt er da. Er trägt die Haare kurz und eine Brille auf der Nase. Er ist Ende zwanzig und sieht dem Alexander aus dem Internet ohne den ägyptischen Turban kaum noch ähnlich. „ Seit’s ihr die drei Couchsurferinnen?“ fragt er mit Wiener Dialekt. Er ist es tatsächlich.
Alexander ist Mitglied des internationalen Gastfreundschaftsnetzwerks couchsurfing.org. Die Website wird dafür genutzt, um kostenlos eine Unterkunft auf seiner Reise zu finden oder selbst anderen eine Schlafmöglichkeit oder Angebote wie z.B. eine Stadtführung anzubieten. Mitte März betrug die Mitgliederanzahl weit über eine Million in 231 Ländern und Gebieten. Rund 54 % davon boten zu dem Zeitpunkt eine Unterkunft bedingungslos oder unter Vorbehalt an.
Alexander führt uns in seine Wohnung. Wir atmen auf. Ein eigenes Zimmer, für jeden ein eigenes Bett mit frisch bezogener Bettwäsche, ein Pc zur freien Benutzung, ein kleiner Balkon. Wir dürften uns bei allem bedienen, er habe uns auch drei Stücke seines Tofu- Schnitzels aufgehoben, falls wir kosten wollten. Wir lehnen dankend ab und schlafen vor Erschöpfung (sieben Stunden Autofahrt hinterlassen Spuren) schneller ein, als wir ein „Gute Nacht“ flüstern können.
Die große Erfolgsstory beginnt wie so oft ganz klein
Auch Gründer Casey Fenton war damals auf der Suche nach einem Schlafplatz für seine Reise nach Island. Dabei ging es ihm nicht um ein komfortables Hotel, sondern vielmehr darum, das Land kennen zu lernen und das nicht aus der Sicht eines Fremdenführers. Er schickte eine solche Anfrage per Mailingliste an 1.500 Adressen und wider seiner Erwartung bekam er eine außerordentlich große Resonanz. Die Geburtsstunde von Couchsurfing hatte geschlagen und Fenton ging mit seinem Projekt 1999 online.
Am nächsten Morgen zelebrieren wir frisch geduscht und erholt meinen Geburtstag, es gibt Kuchen aus dem Supermarkt und Instant- Cappuccino. Ich puste die Kerze aus und wünsche mir, dass der Urlaub genau so weitergeht. Doch schon vor Einbruch der Nacht müssen wir das erste Mal unsere Stirn in Falten legen. An unserer Zimmertür kleben mehrere Post-it’s mit Sätzen wie „ Heute Nacht muss eine von euch bei mir schlafen, sonst kommt’s nicht auf.“ Wir übergehen seinen Versuch der Annäherung und hübschen uns für den Abend auf. Auf der 90er- Party feiern wir gebührend und schwitzen angemessen. Was wir zurück in Alexanders Wohnung auch auf dem Foto im Internet betrachten können. Wir erlauben uns einen Spaß und ändern den Desktop- Hintergrund des Computers, um auch ihn daran teilhaben zu lassen.
Couchsurfing basiert größtenteils auf Vertrauen. Die Mitglieder erstellen ein Profil, über das sie mit anderen Kontakt aufnehmen können. Diese können sich untereinander Bewertungen geben, wenn sie sich besucht haben. Die Kommentare werden dann in den References vermerkt. Wenn man es offizieller mag, kann man sich sogar verifizieren, indem die eigene Adresse von den Zuständigen geprüft wird. Das hingegen kostet aber Geld. Eine weitere Möglichkeit ist das Bürgschaftssystem, das courchsurfing.com eingeführt hat, um das Projekt sicherer zu machen. Dennoch beziehen sich die meisten Nutzer auf die Profile, in denen sich das Mitglied präsentiert, wie es nach außen hin wirken will.
Partnervermittlung in den eigenen vier Wänden
Das Profil, welches Alexander bei Couchsurfing pflegt, wirkt ansprechend, seine E- Mails sind locker und witzig. Was wir am nächsten Tag erblicken, ist weniger amüsant. Auf unseren Kopfkissen liegen Süßigkeiten in Kussmundform und das Desktop- Bild wurde mit Kommentaren versehen. Unsere Körper verziert mit Anmerkungen wie „Alles, was hier dran schön ist, sind die Haare“, „Keine Titten, kein Hirn“, „Vielleicht mal rasieren ODER abnehmen!“. Es lacht niemand. Auf den Hintergrund des Computers setzen wir einen Hund.
Gegenseitig steigern wir uns in die Situation hinein, malen uns wilde Szenarien aus, wie das Ganze wohl weiter gehen würde. Wir sind schon kurz vorm Packen, als wir uns wieder auf den Boden zurückholen. Alexander hatte uns erzählt, dass sein Freund ihm geraten habe, sich bei Couchsurfing anzumelden, um lockerer zu werden, er sei immer so konservativ. Sein Freund selbst habe häufig Couchsurfer bei sich zu Gast. Nicht selten waren sie weiblich und landeten in seinem Bett. Mit Sicherheit hatte sich Alexander ähnliche Hoffnungen gemacht.
Ziemlich schnell wurden wir also mit der Kritik an Couchsurfing konfrontiert. Es gibt immer wieder Mitglieder, die das System als Partnervermittlungsdienst ansehen. Dabei soll es eben genau das nicht sein. Sicherlich ist die große Liebe nicht ausgeschlossen, wenn sie sich findet. Bei Couchsurfing geht es aber viel mehr um die Vision der Einheit. Einer Community. Darum, dass Menschen auf der ganzen Welt die Arme offen halten für Fremde und diesen ihre Kultur näher bringen. Melting pot 2.0.
Am letzten Morgen beeilen wir uns und belassen es bei einer Katzenwäsche. Niemand möchte länger bleiben als nötig. Wir brechen also nach Bratislava auf.
Mike beweist: Schlimmer geht immer
Anderthalb Stunden später lehnen wir uns mit den Rucksäcken an eine Hauswand. Um uns herum wuseln Touristen durch die Gassen, klirren Biergläser aneinander, werden Kaffeetassen dampfend zum Mund geführt. Es ist 32 °C im Schatten und wir warten auf Mike. Als er auf uns zukommt, wünschen wir uns, er frage nur nach dem Weg. Stattdessen sagt er: „Are you the three german girls?“ Wir lächeln. Und er setzt sich an einen Tisch des Cafés, um ein Bier zu bestellen, das sicher nicht das erste am heutigen Tage ist. Mike ist unser Host- bei ihm werden wir die nächsten zwei Nächte verbringen. Couchsurfing Part zwei.
Hier sollte das Ende einsetzen. Wenn Mike nicht all unsere bisherigen Erfahrungen übertreffen würde. Nach Alexander dachten wir nicht, dass es schlimmer werden könnte. Aber das wurde es.
Wir brechen auf, um mit der Straßenbahn zu Mikes Appartement zu fahren. Die Bahn kommt zu früh, sodass wir kein Ticket lösen können. „You wanna risk it?!“, sagt er und schon stehen wir schwarz fahrend in der Menge. Während dessen erzählt er meiner Freundin, dass er eine Liste aller Kontrolleure besitze, mit Foto und Namen. Als ich ihn frage, woher man so etwas bekomme, stellt er mir die Gegenfrage, was man heutzutage nicht im Internet bekäme.
Das war, soweit ich weiß, der erste Moment, an dem wir alle das Bedürfnis hatten, miteinander zu reden. Doch wie sich kurzschließen, wenn der Urheber des Gesprächsgrundes immer in der Nähe ist.
Als wir uns seiner Wohnung nähern, erkennen wir, dass er in einem rosa gestrichenen Block wohnt. Eng aneinander gedrückt fahren wir mit einem Vier- Personen- Fahrstuhl in den fünften Stock. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. Mike besitzt genau ein Zimmer, ein robustes, kleines Sofa und ein großes Bett, auf dem Henry thront. Das ist sein 18- jähriger Kater, sein König. Er legt sich neben ihn.
Andere Länder, andere Sitten
Wir wollen Höflichkeit beweisen und gehen mit unserem Host für ein Abendessen einkaufen. Von unserem Weg geht ein dunkler Pfad ab. Mike zögert und verschwindet darauf mit den Worten „I have to check something“. Das ist nicht das einzige Mal, das er so etwas tut. Während wir in der Küche dann ein Cocos- Erdnuss- Gemüse vorbereiten, schaut er uns -Henry streichelnd- vom Bett aus zu. Das Essen ist gut gelungen und wir genießen die warme Mahlzeit- bis zu dem Moment, als Mike seinem Kater den Teller hinschiebt und dieser daraus frisst. Ich sehe, wie wir alle in der Bewegung unserer Gabel zum Mund innehalten vor Entsetzen. Mike hingegen lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und spießt ein Stück Paprika auf.
In den nächsten Stunden bemerke ich, dass ich sein Profil vielleicht ein bisschen besser hätte studieren sollen. Wir kommen auf folgende Visitenkarte: Mike ist 37 Jahre, in Amerika geboren und seit ein paar Jahren wohnhaft in Bratislava. Er hat eine geschiedene Frau und ein Kind, seine Freundin verließ ihn, weil sie sich für ihren Job entschied. Mike ist Kettenraucher und trinkt Alkoholmengen eines Abhängigen. Er ist arbeits- und staatenlos. Berechtigterweise fragen wir uns mittlerweile: Was macht dieser Mann? Außer bis in den Nachmittag hinein schlafen?
Kostenfrei aber nicht ganz ohne Wagnis
Das ist das zweite Risiko am Couchsurfing. Auch wenn das auf der Website präsentierte Profil noch so freundlich klingt, es bleibt Teil eines virtuellen Netzwerkes. Wer sich in Wirklichkeit dahinter verbirgt, erkennt man erst, wenn sich die Haustür öffnet. Dass dabei auch Freundschaften entstehen können, belegt couchsurfing.com in seiner Statistik. Seit 2004 wurden rund 1,25 Millionen Übernachtungen erfolgreich abgeschlossen, 1,5 Millionen Freundschaften werden immer noch gepflegt, 90.000 davon werden als eng bezeichnet. Die Mitglieder haben von 3,2 Millionen positiven Erlebnissen berichtet, das sind immerhin 99,6 Prozent. Ein gutes Fazit.
Die Nacht bei Mike gestaltet sich im Gegensatz minder erfolgreich. Er begrüßt uns einzig mit einer engen Shorts bekleidet, schlafend auf seinem Bett. Sein Angebot, jemand könne neben ihm schlafen, verneinen wir mehrfach. Die Couch ist zum Übernachten leider viel zu klein. So richten wir uns auf dem Boden ein, nehmen uns alte, herumliegende Felle zur Hilfe. Dass wir alle mitten in der Nacht erwachten, weil er Hilfeschreie im Traum ausstieß, erfahre ich erst am nächsten Morgen. Wir haben Angst vor der zweiten Übernachtung und trotzdem schließen wir auch ein weiteres Mal unruhig unsere Augen.
Dass Mike uns am Abend zuvor erzählt hat, er sei Anarchist erklärt das Telefonat mitten in der zweiten Nacht. Ich werde wach und muss husten. Der Zigarettenqualm steht trotz offenem Fenster in der Luft. Mike faselt etwas von Plänen, stellt Fragen und eine raue weibliche Stimme antwortet ausführlich. Ich strenge mich an, genaue Worte zu verstehen, schlafe dann aber doch ein und verpasse das Ende.
Wer sich im Sofa-Tausch-Forum ausschließlich einen kostenlosen Schlafplatz sucht, ohne Interesse am Host zu zeigen, wird im Netzwerk als so genannter „freeloader“ nicht akzeptiert. Es geht nicht darum, bei anderen zu schmarotzen, sondern um die Möglichkeit einen Tausch einzugehen. Couch gegen Teller waschen, kochen, Bilder malen. Und eben die Gastfreundschaft in den eigenen vier Wänden.
Wir lassen Mike eine mitgebrachte Packung Halloren zurück und verschwinden am nächsten Morgen, bevor die Sonne aufgeht. Einig sind wir uns alle, Mike wird bei keinem von uns übernachten.
Vera Marie Rodewald
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