Donnerstag, 21. August 2014

Kultur der Wildnis

Kultur der Wildnis 

 

 



,,Wild“ heißt ungeordnet, ,,wild“ heißt gesetzlos, ,,wild“ bedeutet geil - wild ist das Chaos in seiner produktiven sowie zerstörerischen Macht. Das Wilde ist das Lebendige, das was von selbst wird, ohne dass wir seine Gesetze beherrschen, ja ohne, dass wir sie kennen. Wildnis ist die Wirklichkeit, so wie es ist und sich auf die Wildnis einzulassen, bedeutet sich im Ganzen zu akzeptieren. Der Lebensraum ungezähmter Tiere und Pflanzen, Regenwälder und Tundren, Flechten bewachsene Steine und die Bakterienvölker auf unserer Haut – all das ist die klassische Wildnis. Wildnis besteht darin, dass sich die natürliche Form von Arten, Stoffkreisläufen und Landschaften  von alleine erstellt, hervorbringt und steigert. Kein Individuum kann ohne die Anderen sein, Keines gedeiht, ohne dass sich die Existenz der ihn Umgebenden in seiner Gestalt wiederspiegelt und ausdrückt – ,,wild“ ist die Existenz im Geflecht.


Die Wildnis ist ein ausgefeiltes Modell der Teilhabe, jede Freiheit ist an die Freiheit eines Anderen gebunden, das ist die grundlegende Ökologie der Wildnis. Sie ist der Raum, indem das Allgemeine zu persönlichem Ausdruck und eigener Selbsterfahrung kommt, weil es sich in ein Individuum verwandelt. Freiheit wird durch die Nutzung des Körpers erlangt, nach dem Gebrauch des Körpers wird dieser zurück geschenkt und die Lebensgemeinschaft wächst. 
Am Beispiel der Bäume des Waldes ist dieser Prozess gut zu erkennen: Im Herbst zerfallen die Blätter der Bäume zu Humus, wodurch sich der umgebende Waldboden anreichern kann. Dass Individualität („Ego“) und Ökosystem („Community“) gedeihen, verlangt jedoch getreues Gleichgewicht. Daraus lässt sich ableiten, dass Wildnis bedeutet, die Gesetze des ökologischen Ganzen und somit die allgemeine Lebendigkeit zu akzeptieren - und nicht nur seine eigenen individuellen Gesetze. ,,Wild leben“ bedeutet, aus Leben mehr Leben zu machen und nicht nur für das eigene Wohl zu sorgen. 


Der Unterschied zwischen den Menschen und den übrigen Lebewesen ist, dass wir uns erst noch zur Wildnis bekennen müssen, um im Gleichgewicht mit dem Leben zu existieren. Die Wildnis muss zu einer Kultur der ökologischen Wirklichkeit werden, welche Einsicht in das Wahrhaftige beinhaltet. Die Zivilisation folgt jedoch dem Gegenteil: Der Mensch ist die einzige Spezies, die sich nicht an die Regeln der Biosphäre, eines Kosmos, der Leben hervorbringt, hält. 
Die so genannten Wilden sind heute die Helden des Nachtlebens der Metropolen; wild treiben es die Medien und Börsen, Hedonisten, Egoisten und Konzerne.  Unsere biologische Wildnis schwindet desto schneller, je mehr Menschen es zu ungebremster Wildheit und gieriger Bedürfniserfüllung drängt. Adorno und Horkheimer bezeichnen unser Wegschauen als „Verblendungszusammenhang“
Solange wir die Wirklichkeit nicht kennen, gibt es auch keine Chance zu einer Wende. 


Wir Menschen brauchen eine Kultur der Wildnis, weil wir nicht mehr aus uns selbst heraus das richtige Maß an Wildheit besitzen. Das Paradoxe ist, dass wir verstehen müssen, wer wir sind um in freier Entscheidung Mensch zu sein, es ist kein Biologismus. Die Kultur der Wildnis bedeutet auch Einsicht in das Notwendige; nämlich zu verstehen, dass wir auch durch den Tod nicht aus dem lebendem System entfernt werden, sondern nur auf andere Weise tiefer hinein geraten. Solch eine ökologisch inspirierte Kultur imitiert nicht die Ökologie, sondern interpretiert sie. 


In ihrem tiefsten Kern ist die Wildnis genau das, was man nicht erkennen kann, weil man es ist, unterhalb allen Kennens, man kann sie nicht kontrollieren, kommandieren, durchschauen, 
weil sie es ist, die uns wirft, wie der Ozean eine Welle. 
Das Subjekt ist nur existent, weil das Ganze existiert. Diesen ökologischen Kern allen Seins – die Freiheit in der Notwendigkeit – zu erkennen und entsprechend in der Freiheit als Mensch zu handeln, das wäre das Leitbild einer Kultur der Wildnis. 


 





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen