Diese und andere Situationen sind völlig normal. Ich gehe durch den Wald, umgeben von vierzig Kindern, die ihre letzten beiden Ferienwochen in der Waldferienbetreuung verbringen. Seit fünf Jahren arbeite ich nun bei diesem Betreuungsangebot mit. Jedes Jahr steht dieses Angebot unter einem anderem Motto. Dieses Jahr lautet es: Unter dem Meer.
Vierzig Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren werden morgens um acht Uhr von ihren Eltern auf den Waldparkplatz gebracht oder kommen alleine. Acht Betreuer sind nun den ganzen Morgen für die Kinder da. Der Tag beginnt mit einem Spiel bei dem sich alle beteiligen. Anschließend machen wir uns auf den Weg zu unserem Lagerplatz im Wald. Dort haben wir uns am ersten Tag der Ferienbetreuung Hütten gebaut. Die Kinder wurden nach Alter und Geschlecht in vier Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe hat eine eigene Hütte und zwei Betreuer, die sich um Wünsche und Bedürfnisse der Kinder kümmern. Am Lagerplatz angekommen frühstücken alle gemeinsam. Anschließend finden verschiedenste Aktionen statt. Die Kinder schneidern sich Kostüme, schnitzen Schwerter oder bauen kleine Boote, die sie auf einem nahegelegenen Teich schwimmen lassen. Um dreizehn Uhr gehen wir zurück zum Waldparkplatz und das Betreuungsangebot ist zuende. Alle sind gespannt auf den nächsten Tag.
Das absolute Highlight der Woche ist die Schatzsuche. Sie wird von den ältesten Kindern gemeinsam mit ihren Betreuern vorbereitet. Und auf so einer Schatzsuche befinde ich mich nun. Ich gehe an der Spitze des „Befreiungsteams“. Die Kinder hinter mir sind gespannt ob es uns gelingen wird die Meerjungfrau zu befreien. Ich bleibe stehen. Die gesamte Gruppe hinter mir hält ebenfalls an. Es ist still. Alle horchen in den Wald hinein. Von Fern hallen Schreie durch den Wald. Einige Kinder halten die Luft an. „Da hinten ist etwas!“, ruft Luisa in die Stille hinein. Lisa, die direkt neben Luisa steht fährt erschrocken zusammen. „Wir gehen weiter!“, flüstere ich und der Kinderclan setzt sich wieder in Bewegung.
Fünfzig Meter weiter werden wir von Wegelagerern überfallen. Es sind zwei der älteren Jungen. Sie wollen unser „Waldgeld“: zwanzig Eicheln damit wir den Weg passieren dürfen. Die Kinder schauen sich fragend an. „Sollen wir das bezahlen?“, fragt Myrijam, eine Betreuerin, die Kinder. „Ich will kämpfen!“, ruft Luisa und hebt ihren Wanderstock. „Ich auch!“, meint Niklas und stellt sich neben Luisa. Die Wegelagerer willigen ein. Ein Kampf! Niklas und Luisa stürzen sich mit ihren Stöcken auf die Banditen. Diese heben ihrerseits die Stöcke zum Kampf und ein Fechtduell entbrennt. Die anderen Kinder stehen gespannt um das Geschehen herum. Wir feuern Niklas und Luisa an. Schließlich gelingt es Niklas, dass einer der Banditen die Flucht ergreift. Der andere Bandit sinkt mit Luisas Stock unterm Arm zu Boden. Der Weg ist frei und wir ziehen weiter.
Als Silke Bauer vor elf Jahren die Idee zu einer Kinderferienbetreuung hatte, wusste sie noch nicht welchen Erfolg dieses Konzept haben würde. Die Mutter von drei Kindern arbeitete damals im Büro des Tagesmütterverein Gundelfingen. Aufgabe des Vereins war es bis dahin Tagesmütter auszubilden und zu vermitteln. Da es für ihre Kinder während den Schulferien nur wenig Angebote gab und sie selbst arbeiten musste, beschloss sie kurzerhand das Konzept des Vereins zu erweitern. Sie suchte sich ein paar Pädagogen und einen Bauer, der seine Kuhweide am Waldrand für das Betreuungsangebot zur Verfügung stellte. Ein naturpädagogisches Ferienangebot für Kinder sollte es werden. Die Kinder aus Gundelfingen, einem kleinen Ort im südlichen Schwarzwald, sollten etwas über die Natur erfahren und zwei schöne Ferienwochen erleben. Die Eltern dagegen, sollten mit der Gewissheit, dass ihre Kinder gut versorgt sind zur Arbeit gehen können.
Der Bedarf für ein solches Betreuungsangebot erklärt sich von selbst. Die Anzahl der Ferientage der Kinder variieren zwischen den Bundesländern in gering Maß. In Baden-Württemberg hat ein Schüler im Jahr 2009 sechsundsechzig Tage Schulferien. Einem Angestellten stehen im Schnitt jedoch nur zwischen achtundzwanzig und dreißig Urlaubstage zur Verfügung. Somit liegt auf der Hand, das viele Eltern gezwungen sind ein Betreuungsangebot für ihre Kinder zu suchen.
„Die Sommerferienbetreuung ist inzwischen zu unserem Aushängeschild geworden“, sagt Ute Zühl, Vorstand des Tagesmüttervereins. In der Tat ist dieses Betreuungsangebot zu einem regionalen Erfolg geworden. Seit elf Jahren findet nun jedes Jahr die Waldferienbetreuung statt.
Wer sein Kind in die Ferienbetreuung bringen will, muss Mitglied des Tagesmüttervereins werden. Fast achtzig Familien sind dem Tagesmütterverein allein wegen der Ferienbetreuung beigetreten. Manchmal ist die Anmeldungsliste für die Betreuung, die Ende August stattfindet, schon kurz nach Ostern voll. Die Warteliste ist lang. Denn jede Woche können nur etwa vierzig Kinder aufgenommen werden. „Wenn wir mehr Kinder aufnehmen, wird die ganze Betreuung zu einer Art Massenabfertigung, und dann verliert das Angebot seine wohltuende Atmosphäre.“, sagt Ursa Weiss, die Leiterin der Freizeit.
Trotzdem bemüht man sich, so viele Kinder wie möglich zu integrieren. Auf individuelle Bedürfnisse von Kindern und Eltern wird eingegangen. Und meistens ist sehr schnell eine Lösung gefunden, mit der alle zufrieden sind.
„Ihr müsst das Sudoku lösen“, sagt Jan, der am Wegrand auf uns wartete und uns nun ein Blatt Papier entgegenstreckt. „Anschließend sage ich euch, welchen Weg ihr gehen müsst um die Meerjungfrau zu befreien.“
Wir sind an der nächsten Station angelangt. Vor uns gabelt sich der Weg. Maren, zwölf Jahre alt und damit eines der ältesten Kinder greift sofort nach dem Blatt Papier und setzt sich an den Rand des Weges. Sie wird von einer Traube aus Kindern umgeben, die alle bei der Lösung des Spiels helfen wollen. Nach etwa fünf Minuten ist das Sudoku gelöst. „Ihr müsst den linken Weg nehmen.“, erklärt Jan und verschwindet mit dem gelösten Sudoku im Wald. Wir gehen weiter.
Schon Monate vorher trifft sich das Team um die zwei Wochen der Ferienbetreuung zu planen. Mit den Jahren ist die Anzahl der Teammitglieder gestiegen. Waren es vor fünf Jahren noch fünf Betreuer, so arbeiten heute acht Leute zusammen. Durch diesen Personalschlüssel kann besser auf alle Kinder eingegangen werden. Die acht Betreuer sind Sozial- oder Naturpädagogen, Ergotherapeuten oder Schüler mit sehr guten pädagogischen Fähigkeiten. Durch diese Verschiedenartigkeit sind auch die Angebote für die Kinder sehr unterschiedlich. Während sich Sarah im Seilparcours an einem Seil entlang hangelt, stehen Lenni und Christoph beim Harpunenwerfen an. Ein Stock mit einem Seil am Ende ist die Harpune. Gelingt es ihnen, direkt in den Aluring zu treffen, bekommt die Gruppe Punkte. An einem anderen Ort angeln die Kinder Stofffische aus einer blauen Ikeatüte. Die Fische haben sie am Vortag selbst hergestellt. Aber manchmal passieren auch Sachen die keiner geplant hat. So erklärten ein paar Kinder Eicheln zu „Waldgeld“ und verkauften am Wegrand Stöcke, die sie zurechtgeschnitzt hatten als Messersets. Andere Kinder sammelten Käfer und verkauften sie für fünf Eicheln als „Haustiere“. Aus diesen Ideen entstand entlang des Waldweges ein Markt bei dem die Kinder mit Eicheln handelten und sich mit ihren verschiedensten Angeboten warben. „Möchtest du eine Wette abschließen?“, fragte mich einmal Lenni, ein großer schlanker Junge mit halblangen blonden Haaren. „Ich kämpfe gegen Niklas. Du setzt zwei Eicheln auf einen von uns beiden. Wenn der auf den du gesetzt hast gewinnt, bekommst du vier Eicheln zurück.“
Besonders für die Jungen ist das Kämpfen sehr wichtig. Im Wald kommen sie alle auf ihre Kosten und können ihre Kräfte messen. Allerdings läuft der Schwertkampf mit Stöcken nicht willkürlich ab, denn in all den Jahren ist beim Kämpfen noch nie etwas passiert. Ein fairer Umgang ist hier allen Beteiligten sehr wichtig.
„Das Betreuungsangebot findet jedes Jahr in den letzten beiden Wochen der Sommerferien statt. Die Eltern können sich darauf verlassen und ihren Urlaub für einen anderen Zeitraum der Ferien planen.“, erklärt Ute Zühl.
Viele Kinder kommen seit vielen Jahren und kennen sich schon bestens aus. Sie kennen den rituellen Tagesablauf, wissen das zu Beginn der Woche Hütten gebaut werden, und am Ende der Woche eine Schatzsuche stattfindet.
Nach zwei weiteren Stationen unserer Befreiungsexpedition werden die Kinder unruhig. Sie ahnen, dass sie sich dem Ort, an dem die Meerjungfrau gefangen gehalten wird langsam nähern. Die einen sind ganz still und horchen, ob sie in der Ferne etwas hören. Andere Kinder rufen laut ihre Befürchtungen und Eindrücke aus. Jeder rechnet damit, dass die Piraten im nächsten Moment hinter einem Baum hervorspringen. Ich sehe mich um. In einiger Entfernung bewegt sich etwas. „Seit mal still!“, flüstere ich den Kindern die neben mir stehen zu. Es beginnt zu regnen. Ich höre wie die Regentropfen von den Blättern der Bäume aufgefangen werden. Der Regen ist stark doch das Blattwerk ist dicht. Wir stehen im Trockenen. „Da ist etwas!“, kreischt Luisa. Sie hebt ihren Stock und will sich auf den vermeintlichen Piraten stürzen den sie den Waldweg entlanggehen sieht. Gerade noch rechtzeitig kann ich sie zurückhalten, denn es handelt sich lediglich um eine Frau mit Hund, die einen Waldspaziergang unternimmt.
Nachdem das Betreuungsprogramm in den Sommerferien gut ankam, entschloss man sich nach fünf Jahren auch eine viertägige Betreuung für die Osterferien anzubieten. Es folgte ein Jahr später eine Herbstferienbetreuung. Jedes dieser drei Angebote hat ein eigenes Konzept, die sich aber in vielen Punkten ähneln. Während im Sommer jeden Tag andere Angebote stattfinden, bilden die Kinder in der Osterferienbetreuung Gruppen und arbeiten an einem dreitägigen Projekt.
Seit einem Jahr gibt es nun auch für die Kinder deren Eltern den ganzen Tag arbeiten müssen eine Nachmittagsbetreuung. Die Kinder bekommen nach dem Vormittag im Wald Mittagessen und können anschließend auf dem Gelände des Waldkindergartens spielen. Gemeinsam mit den Betreuer werden Gipsmasken und Kostüme hergestellt, Perlen bemalt und zu Ketten weiterverarbeitet.
Hilferufe hallen durch den Wald. Wir sind nun ganz in der Nähe des Platzes, an dem die Piraten die Meerjungfrau gefangen halten. Die Kinder werden still. „Alle bleiben hinter mir!“, sage ich. Ich gehe langsamer damit auch die Kinder die am Schluss laufen und einen gemütlicheren Gang haben mitbekommen was gleich passiert. Nach der nächsten Wegbiegung bleibe ich stehen. Vor uns liegt eine Hütte, gebaut aus langen Ästen. Und darin warten schon die Piraten. In ihrer Mitte liegt Lars, die Meerjungfrau. Er hat lange Haare und eignet sich daher besonders gut für diese Rolle. Um die Beine hat er eine Decke in Form einer Fischflosse gelegt. „Hilfe!“, ruft er.
Die Piraten kommen auf uns zu. „Habt ihr das Lösegeld?“, wollen sie wissen. „Fünfzigtausend Eicheln!“. Natürlich haben wir die nicht. Aber ich entschließe mich zu verhandeln. Auf dem Weg haben die Kinder und ich einige Eicheln gesammelt. Wir geben sie nach und nach den Piraten und ich versuche dabei den Preis für die Meerjungfrau runter zu handeln. Doch die Piraten lassen sich nicht darauf ein. Es kommt zum Kampf. Drei Kämpfer aus unseren Reihen werden von den Piraten ausgewählt. Dann entbrennt das finale Fechtduell. Gebannt schauen alle dem Verlauf des Kampfes zu. Auch ich stehe einige Zeit still da und fiebere mit. Schließlich beginnen ein paar Kinder unsere Kämpfer anzufeuern. Nach ein paar Minuten unerbittlichen Kampfes ist es dann endlich geschafft. Die Piraten wurden vertrieben. „Ihr habt mich gerettet.“, sagt die Meerjungfrau. „Nehmt als Dank diesen Schatz.“ Lars hält eine Schatztruhe hoch. Die Augen der anderen Kindern funkeln. Sie haben es geschafft. Alle freuen sich. Nun werden wir in unsere Lager zurück gehen und den Schatz gerecht verteilen.
Am letzten Tag der Betreuung findet das alljährliche Grillen mit den Eltern statt. Die Sonne scheint und wir rechnen damit, dass recht viele Eltern kommen werden.
„Meine Kinder waren in den letzten zwei Wochen ausgeglichener als sonst.“, erzählt mir eine Mutter. „Ich glaube die Natur tut den Kindern gut.“
In der Tat, viele Kinder kommen am ersten Tag in die Ferienbetreuung und sind sehr unruhig. Nach etwa drei Tage hat sich die Unruhe bei den meisten Kindern gelegt und die Atmosphäre ist sehr entspannt. „Ja, der Wald hat seine Wirkung auf die Kinder.“, bestätige ich die Vermutung der Mutter.
Die Stimmung am Lagerfeuer ist gemütlich. Doch alle sind auch ein kleines bisschen traurig, dass schon wieder alles vorbei ist. Auch ich finde es schade. Die letzten zwei Wochen gingen wirklich sehr schnell vorbei. Mich sprechen noch weitere Eltern an, und erzählen mir, wie begeistert ihre Kinder nach Hause kamen. Die Jungen konnten beim Schwertkampf ihrer Energie gerecht werden, die Mädchen dagegen beim Basteln und Theaterspielen ihrer Kreativität freien Lauf lassen.
Lenni, Christoph und Sebastian kommen auf mich zu. Ich habe in den letzten zwei Wochen viel mit ihnen erlebt. Lenni gibt mir die Hand. „Tschüs, bis nächstes Jahr!“, sagt er. „Bis nächstes Jahr!“, antworte ich.Eine Facharbeit im Seminar Journalistisches Schreiben von Marco Faller
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