Von meiner Haustür aus sind es nur fünf Minuten zu Fuß in eine für mich jedes Mal fremde Welt. In dieser suche ich etwa einmal die Woche Penny oder Netto auf, um einkaufen zu gehen. Ich muss nur die Saale auf der Mansfelder Straße überqueren und schon stehe ich auf dem Rennbahnkreuz. Nur wenige Meter weiter und ich habe die Kaufhalle erreicht. Wirklich schön finde ich Halle-Neustadt nicht.
Der Hauptgrund dafür wird sein, dass mich viele Menschen, die mir hier begegnen, erschrecken oder bekümmern und ein bedrückendes Gefühl hinterlassen. Kommt es mir nur so vor, oder hat dieser Netto wirklich ein vielfältigeres Alkoholangebot, insbesondere an der Kasse, als andere Supermärkte? Ab acht Uhr morgens sitzen sie vor der Kaufhalle. Meist ältere Männer, die hier ihr Frühstücksbier trinken und einen schweigsamen Eindruck machen. Am späten Mittag werden diese von jüngeren Männern abgelöst, die auch Bier trinken. Ab Nachmittag stoßen dann, sofern das Wetter nicht allzu trist ist, deren Frauen oder Freundinnen hinzu, gegebenenfalls mit Kindern. Diese Kinder toben, vorausgesetzt sie können schon eigenständig ihren Kinderwagen verlassen, zwischen kläffenden Hunden und Glasscherben herum und haben scheinbar kein Interesse an dem Spielplatz, der nicht mal 30 Meter entfernt ist.
Eine junge Frau sitzt etwas abseits von den anderen Leuten. Schmal, eingefallen, blass und irgendwie durchsichtig raucht sie eine Zigarette. Ein Kinderwagen steht neben ihr. Ich gehe zu ihr und frage sie vorsichtig, warum sie hier ihren Nachmittag verbringt. Sie passe nur auf, dass der Olle nicht zu viel säuft, sagt sie und deutet mit einer Kopfbewegung in Richtung Gruppe. Meine Gesprächspartnerin erweist sich als wortkarg. Ein kleines Mädchen kommt auf uns zugehüpft, anscheinend die Tochter. Schmal, blass und durchsichtig zieht es am Ärmel der Frau und will ihr etwas zeigen. Sie steht auf, wendet sich dem Kind zu und brüllt, es solle verdammt noch mal die Schnauze halten, sonst könne es zu Hause sein blaues Wunder erleben. Dann zieht sie einen Jägermeister aus der Jackentasche, sagt „Prost!“ und dass es Herbst wird und trinkt.
Ich setze mich auf mein Fahrrad und möchte etwas anderes von Halle-Neustadt sehen. Dreihundert Meter weiter und zweimal um die Ecke und schon weiß ich nicht mehr aus welcher Richtung ich eigentlich komme und wo ich überhaupt bin. In meinen Augen sieht hier alles gleich aus. Eine Platte neben der anderen, etwas Grün dazwischen. Glücklicherweise habe ich einen Stadtplan dabei. Kakteenweg, Oleanderweg, Palmenstraße – auffällig viele Pflanzennamen. Bevor 1990 Halle-Neustadt durch einen Bürgerentscheid seine Selbstständigkeit verlor und mit Halle zusammengeschlossen wurde, gab es hier gar keine Straßennamen. Die einzelnen Wohnblöcke und deren jeweilige Eingänge unterlagen einer, für Außenstehende kaum durchschaubaren und irreführenden, Durchnummerierung. Aber das war damals – wie der ganze Stadtteil – absolut modern.
Am 15. Juli 1964 wurde der Grundstein für die Chemiearbeiterstadt gelegt, damals noch mit dem Namen Halle-West. Überlegungen, das Gebiet westlich von Halle zu bebauen, wurden allerdings schon in den 1920ern getroffen. Die Einwohnerzahl stieg damals explosionsartig an und die Nachfrage an Wohnraum konnte bei weitem nicht gedeckt werden. Die Stadtväter der Stadt Halle suchten verzweifelt nach Bauland. Westwärts, auf der anderen Saaleseite, zwischen den Dörfern Nietleben und Passendorf wurde ein Gebiet ins Auge gefasst, welches sich zur Bebauung hätte eignen können. Doch nach genaueren Untersuchungen wurde diese Idee wieder verworfen. Die Grundwasserverhältnisse erwiesen sich in der Saaleaue als ungünstig und der technische Aufwand damit als zu groß. Für die DDR stellte dieser Umstand jedoch eine Herausforderung dar, die es zu bewältigen galt. Was die „Kapitalisten“ nicht umzusetzen vermochten, sollte doch für den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden eine lösbare Aufgabe sein.
So kam es, dass in Rekordzeit eines der größten Neubaugebiete der DDR aufgebaut wurde. Am 12. Mai 1967 wurde Halle-West zur selbstständigen Stadt Halle-Neustadt erklärt und erhielt den Beinamen „Sozialistische Stadt der Chemiearbeiter“. Als reine Wohnstadt konzipiert sollte Halle-Neustadt bis zu 100.000 Menschen, vor allem jenen, die in den Chemiewerken Leuna und Buna arbeiteten, einen lebensfreundlichen Wohnraum bieten.
Halle-Neustadt – der Prototyp einer modernen sozialistischen Stadt. Aus der Vogelperspektive erinnert dieser Stadtteil an herumliegende, nach einem undurchsichtigen Prinzip angeordnete Bauklötze. Schulen, Kindergärten, Kaufhallen und andere Dienstleistungseinrichtungen sollten für alle Bewohner in maximal zehn Minuten erreichbar sein. Eine weitläufige Bebauung der Wohnblöcke wurde angestrebt, damit auch in die unteren Etagen die Sonne herein scheinen konnte. Zudem wurde für eine großzügige Begrünung gesorgt – Halle-Neustadt gilt noch heute als der grünste Stadtteil von Halle. Im Zentrum befindet sich der S-Bahnhof. Von hier aus gab es für Pendler eine direkte Verbindung nach Buna und Leuna. Die Fahrpläne waren sogar den Schichtzeiten der Chemiearbeiter angepasst. Planungen für eine Straßenbahnlinie nach Alt-Halle mussten aus finanziellen Gründen verworfen werden.
„Da konnte man aber gut mit dem Bus reinfahren.“, erzählt mir eine alte Frau, die auf einer Bank am Sanddornweg sitzt. Sie ist vielleicht Mitte sechzig. Seit 1974 lebt sie mit ihrem Mann hier, der aber gerade im Krankenhaus liegt. Sie hatte, wie viele andere auch, in Leuna gearbeitet. Dort hat sie auch ihren Mann kennen gelernt, mit dem sie dann aus Alt-Halle hergezogen ist. Mitten in der Altstadt, erzählt sie, hätten sie ihre Wohnung gehabt. „Aber da hat´s immer rein geregnet und der Ofen war auch ständig kaputt.“. 1990 wurde sie arbeitslos, ihr Mann zwei Jahre später.
Die Leuna-Werke, der größte Chemiebetrieb in der ehemaligen DDR, beschäftigte bis zu 30.000 Arbeiter. Nach 1989 wurde die ganze Anlage in kleine Einheiten zerlegt und verkauft. Durch diese Privatisierung und die Erhöhung der Produktivität verlor ein Großteil der Beschäftigten seine Arbeit. Ähnliches widerfuhr auch den Arbeitern der Buna-Werke, in welchen etwa 18.000 Menschen beschäftigt waren. 1995 übernahm der amerikanische Konzern Dow Chemical einen Großteil der Produktionsanlagen, aber nur einen sehr geringen Teil der Arbeiter.
Die Konsequenzen der sich plötzlich ausbreitenden Arbeitslosigkeit sind auch in Halle-Neustadt sichtbar. 1989 lebten hier etwa 93.000 Menschen. Heute hat sich die Zahl der Einwohner fast halbiert und liegt bei 46.000. „Vor fünf Jahren mussten wir mal umziehen. Zwei Blöcke weiter, wegen dem Abriss. Dabei hatten die gerade erst die Fenster neu rein gemacht, bei uns da.“, erzählt mir die alte Frau ebenfalls. Aber der Umzug sei für das Ehepaar nicht so schwierig gewesen. Es habe sich ja kaum was geändert. Die neue Wohnung hätte schließlich fast den gleichen Schnitt gehabt, wie die vorhergehende. Nur der Balkon war auf der anderen Seite. Aber auch daran hätten sie sich gewöhnt und auch ihre alte Schrankwand hat ins neue Wohnzimmer gepasst.
In den 1970ern betrug das Durchschnittsalter in dem Neubaugebiet 23 Jahre. Heute wird die Vergreisung der Stadt hauptsächlich durch sozial Schwache und Ausländer etwas verzögert. Ein Großteil der älteren Menschen, wie auch meine Gesprächspartnerin, fühlen sich hier wohl. Es sei alles schön geordnet und meistens auch recht sauber. Die sanierten Neubaublocks gefielen ihr auch besser als die alten, die Außenverkleidung wirke freundlicher und die Fahrstühle blieben nicht immer stecken. Außerdem werde es hier zunehmend grüner, dort, wo letztes Jahr noch eine Platte stand.
Bei klarem Wetter spiegeln sich Himmel und Wolken in unzähligen Fensterscheiben von offensichtlich leer stehenden Wohnungen wider. Auf den kleinen Straßen vor den Blöcken sehe ich kaum Fußgänger. Ein fast schon romantischer Anblick. Jedoch wird im Rahmen des Programms „Stadtumbau Ost“ und mit dessen Förderung seit 2003 kontinuierlich dem Wohnungsleerstand durch Abriss der Häuser entgegengewirkt. Das, was in Schwedt oder Hoyerswerda schon im vollen Gange ist, wird auch in Halle-Neustadt eintreten. Es ist von Stadtrückbau die Rede. Die Häuser, die stehen bleiben, sind oder werden teilweise aufwändig saniert. Die Grundrisse der einst engen Dreiraumwohnungen bekommen ein neues Gesicht, werden zumeist vergrößert. Die Wohnungsgesellschaften wollen damit vor allem junge Familien anlocken. Der Erfolg scheint sich allerdings in Grenzen zu halten.
Ich fahre noch ein paar Meter weiter und befinde mich nun irgendwo auf der Albert-Einstein-Straße. Ein Kleintransporter von „teilauto“ steht am Straßenrand. Gerade wird ein Kleiderschrank eingeladen. Er sei 28 Jahre alt, habe vor Jahren eine Ausbildung zum Maler und Lackierer gemacht und jetzt einen Job in München bekommen, erzählt der junge Mann über sich, nachdem er mit seinem Kumpel den Schrank zwischen Kisten und anderen Möbeln im Bus eingekeilt hat. Auf die Frage, ob ihm der Wegzug schwer fiele, zuckt er mit den Schultern. Ich darf mit hoch auf den Balkon, kaum noch Nachbarn, zehnter Stock, der Blick reicht weit. Immer noch viele Platten, viel Grün und angenehm ruhig. Die Aussicht hier wird er schon vermissen, meint er.
Eine Facharbeit im Seminar Journalistisches Schreiben von Friederike Rosenthal
dieser artikel liest sich wunderschön. einfach herrlich melancholisch. man erkennt deutlich das sich der titel "so jung und doch schon alt" primär auf den erzähler bezieht.(die große frage ist ob es gewollt ist. wenn ja dann ist es genial gemachte geschichte. wenn nein, dann ist es ein tiefer und ungewollter einblick in die seele des erzählers und damit umso beeindruckender.)
AntwortenLöscheneine an lebensjahren junge studentin, die durch die welt geht und beobachtet, aber nicht handelt.
selbst zum beurteilen kann sie sich kaum aufrichten.
und sie sieht überwiegend das negative ohne irgendeinen drang zu verspüren etwas daran zu ändern.
das ganze hat fast schon etwas von kafka.
ich habe selbst über 8 jahre in der aralienstraße, welche nur 50 meter von der palmenstraße entfernt ist gelebt.
der stadtteil ist bekannt als das blumenviertel, deswegen die vielen pflanzennamen.
vor der palmenstraße liegt ein kindergarten, es ist sehr schön dort und immer lebhaft.
nachmitags sieht man oft kinder dort oder auf der aralienstraße fußball spielen.
kaum etwas sieht dort gleich aus, es ist sehr schwierig die orientierung zu verlieren.
das kommt auf der einen seite durch die magistrale und auf der anderen seite durch eine alte russische kaserne, welche in einen riesigen grünen park umgewandelt wurde.